Not your fault – warum Adipositas eine chronische Erkrankung ist

Immer, wenn Faris und ich uns auf unseren diversen Veranstaltungen und Reisen mit anderen Menschen – egal, ob MedizinerInnen oder Betroffene – über unsere Aktivitäten in den sozialen Medien und unseren Kampf gegen die Stigmatisierung von adipösen Menschen in unserer Gesellschaft unterhalten, kommt früher oder später immer der gleiche Kommentar: «Aber jetzt mal ehrlich: Müssen die denn wirklich alle operiert werden? Eigentlich kann doch jede/r abnehmen – die sollen sich halt nur mal richtig anstrengen. Einfach weniger essen und mehr Sport machen, oder nicht?»

Von Faris weiss ich, dass diese Frage ständige Begleiterin von PatientInnen ist, die an krankhaftem Übergewicht leiden. Deshalb bin ich mir sicher, dass Ihr als Betroffene oder als FreundInnen oder Angehörige von Betroffenen das so oder so ähnlich auch schon mal zu hören bekommen habt. Schliesslich entspricht diese Haltung ja den üblichen Vorurteilen und Stereotypen im Umgang mit Übergewicht .

Während Faris und ich in diesen Situationen am liebsten ganz tief ausatmen und die Augen verdrehen würden, antworten wir auf diesen Kommentar doch immer wieder gleich: «Nein, das ist falsch. Nicht jede/r kann einfach so abnehmen! Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die man sich nicht aussucht oder einfach so hinnimmt, nur weil man zu bequem ist!»

Was dann oft von unseren Gegenübern folgt, ist der klassische Blick, dessen Botschaft irgendwo zwischen «Meinen die das jetzt ernst?» und «Also echt, so einen Blödsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört!» schwankt. Diesen Blick kennt Ihr sicher auch.

Da ich in meiner Rolle als Mediziner in all den Jahren auch immer wieder mit Fragen dieser Art bzw. kritischen Einstellungen konfrontiert worden bin, argumentiere ich in dieser Situation in der Regel immer gleich und versuche, meine GesprächspartnerInnen mit sachlichen Argumenten und ohne unnötige Emotionen von meiner Sache zu überzeugen.

Eine chronische Erkrankung ist nämlich klar und deutlich definiert. In Deutschland ist diese Definition in der sogenannten «Chroniker-Richtlinie» des Gemeinsamen Bundesausschusses nachzulesen

Hier ist unter §2 Absatz (1) eine schwerwiegende chronische Krankheit als «regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, der Behandlungsbedürftigkeit zur Folge hat» definiert. Ich denke, Ihr stimmt mir zu, dass beide Aspekte auf die Adipositas sicher zutreffen. Ja, es handelt sich um einen regelwidrigen körperlichen Zustand und ja, er hat eine Behandlungsbedürftigkeit zur Folge. Letzteres lässt sich z.B. klar und deutlich an den Kosten der Adipositasbehandlung ablesen. Immerhin entfallen gemäss der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) 10,7% der Gesundheitsausgaben in Deutschland auf die Behandlung der Folgen von Adipositas – dies entspräche für das Jahr 2019 einem Betrag von schlappen 40 Milliarden Euro. Ein unvorstellbarer Betrag, oder?

Im zweiten Absatz desselben Paragraphen wird weiter ausgeführt, dass eine Krankheit dann schwerwiegend chronisch ist, «wenn sie wenigstens ein Jahr lang, mindestens einmal pro Quartal ärztlich behandelt wurde (Dauerbehandlung)…». Auch dieser Aspekt trifft auf die Adipositas sicher zu. Wie oft seid Ihr in Eurer Vergangenheit zu Euren HausärztInnen, zu Euren GynäkologInnen, zu Euren OrthopädInnen, zu Euren DiabetologInnen gelaufen und wie oft habt Ihr versucht, mit (oder ohne) ärztliche Hilfe abzunehmen?

Schliesslich werden in §2 Absatz (2) noch drei Merkmale genannt, von denen eines zutreffen muss, um eine Krankheit als schwerwiegend chronisch zu bezeichnen:

  1. Es liegt eine Pflegebedürftigkeit des Pflegegrades 3, 4 oder 5 (….) vor.
  2.  Es liegt ein Grad der Behinderung (GdB) oder ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 60 % oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 60 % vor (…)
  3. Es ist eine kontinuierliche medizinische Versorgung (ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung, Arzneimitteltherapie, Behandlungspflege, Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln) erforderlich, ohne die nach ärztlicher Einschätzung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die aufgrund der Krankheit nach Satz 1 verursachte Gesundheitsstörung zu erwarten ist.

Hier finde ich das letzte Merkmal besonders bemerkenswert. Die Notwendigkeit einer kontinuierlichen medizinischen Versorgung bedeutet nämlich nichts anderes, als dass eine lebenslange Behandlung notwendig ist. Dies ist immer dann der Fall, wenn eine Erkrankung nicht heilbar – also chronisch – ist. So wie im Fall der Adipositas.

Adipositas ist nicht heilbar. Weder durch ein Medikament, noch durch eine Operation, und schon gar nicht durch mehr Sport und weniger Essen! Alles, was wir durch die Behandlung erreichen können ist, das Ausmass der Erkrankung soweit zurückzudrängen, dass den Betroffenen ein besseres Leben mit der Erkrankung im Alltag ermöglicht wird. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Davon, dass einen die Krankheit nie loslässt und auch nach der OP ständige Begleiterin im Denken und Handeln ist, kann Faris ein Lied singen. Und viele von Euch sicher auch!

Zur besseren Veranschaulichung dieses Aspektes hilft es, Adipositas mit einer anderen chronischen Erkrankung zu vergleichen – z.B. mit Rheuma, das medizinisch korrekt auch als «rheumatoide Arthritis» bezeichnet wird. Gemäss «Rheumaliga» ist auch hier das Ziel der Behandlung eine vollständige Remission, also die vollständige Rückbildung der entzündlich bedingten Symptome oder zumindest eine möglichst minimale Krankheitsaktivität (https://www.rheumaliga.ch/rheuma-von-a-z/arthritis).

Um dieses Behandlungsziel zu erreichen, stehen den behandelnden ÄrztInnen eine Reihe von Medikamenten zur Verfügung, die stufenweise zur Rheumabehandlung eingesetzt werden. Angefangen mit sogenannten Basismedikamenten (z.B. Diclofenac), deren Nebenwirkungsprofil noch relativ überschaubar ist, führt der Weg über kortisonhaltige Präparate bis hin zu den sogenannten Immunsuppressiva (z.B. Methotrexat, Azathioprin, Ciclosporin, usw.). Hierbei handelt sich um Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken und deren Nebenwirkungen dementsprechend schwerwiegend sein können.

Interessanterweise – und deshalb finde ich persönlich den Vergleich zwischen Adipositas und Rheuma so aufschlussreich – käme niemand auf die Idee, RheumapatientInnen eine nötige Therapieeskalation vorzuenthalten, wenn die Krankheit unter der Basismedikation voranschreitet. Auch ist die Vorstellung, ÄrztInnen könnten RheumapatientInnen ein zusätzliches (wirksames) Medikament aufgrund möglicher (milder) Nebenwirkungen vorenthalten, vollkommen absurd. Oder man stelle sich vor, man wirft den betroffenen PatientInnen gar vor, der Rheumaschub sei auf persönliche Schwäche oder mangelnde Selbstdisziplin zurückzuführen und man solle sich erstmal zusammenreissen, bevor man weitere Therapiemassnahmen in Anspruch nehmen könne!

Unvorstellbar, oder? Aber so unvorstellbar es auch ist, genau das ist der Alltag im Leben vieler AdipositaspatientInnen. Und genauso wenig, wie RheumapatientInnen, deren Symptome mit starken kortisonhaltigen Medikamenten unterdrückt werden, kein Rheuma mehr haben, sind PatientInnen, die sich einer Magenbypass-OP unterzogen haben, plötzlich gesund und keine AdipositaspatientInnen mehr.

Letztendlich ist der Wiederanstieg des Körpergewichtes – nach konservativer oder chirurgischer Therapie – nichts anderes als ein Schub oder ein schwerwiegender Verlauf einer chronischen Erkrankung, die eine kontinuierliche bzw. lebenslange Therapie erfordert.

Vereinfacht gesagt, verwandeln wir unsere PatientInnen mit einem bariatrischen Eingriff aus «dicken Dicken» in «dünne Dicke». Ziel unserer Therapiebemühungen ist es, die Symptome zu unterdrücken bzw. so gut wie möglich zu kontrollieren, während die zugrundeliegende Krankheit mit allen ihren Ursachen bleibt. Eine Heilung ist nicht möglich!

Deswegen braucht es ja nach einem bariatrischen Eingriff auch eine lebenslange Nachsorge. Damit wir nämlich im Falle eines erneuten Krankheitsschubes unsere Therapie entsprechend anpassen und (falls nötig) eskalieren können.

Lasst uns wissen, was Ihr denkt! Wie immer freuen wir uns über Kommentare, Rückmeldungen und Likes!

Euer Marco Bueter und das Adipositas Zürich-Team

3 Kommentare
  1. Britta Henkel
    Britta Henkel sagte:

    Lieber Dr. Bueter,
    auch ich bin operiert (2017 Magenbypass u der Mageneingang wurde schon versuchsweise verkleinert, was aber nicht half) und bin auch eher am Zunehmen und habe stark zu kämpfen. Ich habe Angst vor der weiteren Nachsorge, weil ich nicht wirklich weiß, wie mir zu helfen ist und ich mich schäme. Die Selbsthilfe klappt gerade gar nicht. Durch Corona ist es auch mit Sport, Yoga und Pilates, schwierig. I
    Der Aspekt der chron. “ Adipositas“ lässt mich das schon in einem anderen Licht sehen, jedoch sind die meisten Ärzte nicht wirklich eine Hilfe.
    Herzliche Grüße aus Augsburg
    Britta

    Antworten
    • Redaktion
      Redaktion sagte:

      Danke für Ihren Kommentar, und Ihre Erfahrungen. Sicher sind sowohl das Zentrum und die beteiligten Mediziner , wie auch der Patient für den nachhaltigen Therapieerfolg verantwortlich. Ärzte die immer die Verantwortung – für den Therapieerfolg – auf die Patienten „abwälzen“, machen es sich zu einfach. Hier sollte nach einem Partner gesucht werden, der unterstützt und motiviert.

      Antworten
  2. Susanne
    Susanne sagte:

    Herzlichen Dank für diesen Beitrag. Ich werde im September operiert. Selbst ich als Betroffene kann es nur schwer fassen das es eine Krankheit ist. Zu lange wurde mir dies suggeriert ich solle nur FDH (Friss die Hälfte) und mehr bewegen. Mein Kampf dauert seit ich Kind bin also ca 38 Jahre.
    Es tut sehr gut das so öffentlich zu lesen.
    Grosses Danke.

    Antworten

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