Eiweiss – auf Leben und Tod
Tierische oder pflanzliche Eiweissquellen? Für den Stoffwechsel (Fachjargon: Metabolismus) stellt sich diese Frage eigentlich überhaupt nicht. Für die Zufuhr, Verdauung, Aufnahme und Verstoffwechselung (Auf-, Um- und Einbau bis zum Abbau und Ausscheidung der nicht weiter verwertbaren Endprodukte) sind die folgenden Teilfragen viel wichtiger.
Ein Beitrag von Dr. med. Renward S. Hauser – Facharzt FMH für Chirurgie, Konsiliararzt für klinische Ernährung und bariatrische Chirurgie und Prof. Dr. med. Marco Bueter.
Woraus setzen sich die Eiweisse zusammen?
Eiweisse bestehen aus einer Vielzahl von Aminosäuren, die in langen Ketten miteinander verbunden sind. Insgesamt sind mehr als 400 verschiedene Aminosäuren mit biologischer Funktion bekannt und die Anzahl der synthetisch erzeugten bzw. die Anzahl der theoretisch möglichen Aminosäuren ist noch erheblich grösser. Davon sind allerdings nur 23 Aminosäuren als Bausteine von Proteinen bekannt und 8 von ihnen werden als «essentiell» bezeichnet, weil sie von unserem Organismus nicht aus anderen Bausteinen selbst hergestellt werden können. Deshalb müssen wir sie uns mit der täglichen Nahrung zuführen. Weitere 2–3 Aminosäuren werden erst im Krankheitsfall essentiell und werden deshalb als «semi-essentiell» bezeichnet.
Während die tierischen Eiweisse meist über eine für unsere Bedürfnisse und eine unserem Organismus ähnliche Zusammensetzung verfügen, sind pflanzliche Eiweisse eher arm an essentiellen Aminosäuren.
Wie werden Eiweisse verdaut und vom Körper aufgenommen?
In der Regel werden Eiweisse kaum oder nur selten in isolierter Form konsumiert, sondern meist in Kombination mit Kohlenhydraten und Fetten. Dieses Nährstoffgemisch beeinflusst die Eiweissverdauung vielfältig (d.h. die Aufspaltung durch Magen- und Darmsekrete mit anschliessender Aufnahme). So werden zum Beispiel tierische Eiweisse in Gegenwart von Stärke deutlich besser vom Körper aufgenommen.
Des weiteren liegen viele Eiweisse in «verpackter» Form vor. Diese Verpackung (Zellwände) muss vor der Verdauung und Aufnahme in den Blutkreislauf zuerst durch unsere Verdauungssekrete geöffnet werden, was sowohl Energie als auch Zeit benötigt. Diese Zeit haben PatientInnen nach einer Magenbypass-Operation aber nicht, da die aufgenommene Nahrung nicht mehr wie bisher im ausgeschalteten Magen zwischengelagert und vom sauren Magensaft vorverdaut wird, sondern durch den kleinen Magenpouch mehr oder weniger unverdaut in den Dünndarm «rauscht». Nicht verdaute und damit nicht aufgenommene Eiweisse gelangen dann über den Dünndarm in den Dickdarm, wo sie für die Trilliarden von Mikroorganismen (Fachjargon: Mikrobiom) ein «gefundenes Fressen» darstellen, was in der Regel wiederum mit einer vermehrten und nicht nur für die PatientInnen äusserst belastenden Gasbildung (Fachjargon: Flatulenz) einhergeht.
Deshalb stellen Eiweissformen ohne eine solche Verpackung für die Ernährung von Magenbypass-PatientInnen die deutlich bessere und geeignetere Variante dar.
Bei Verzehr pflanzlicher Eiweissquellen werden zusätzlich sekundäre Pflanzenstoffe (Oxalate, Phytate, Xanthane, Phenole, Glykoside und Alkaloide, etc.) aufgenommen – quasi als blinde Passagiere. Diese uneinheitliche, aber faszinierende Substanzgruppe beeinflusst die Verdaubarkeit aller Makro- und Mikronährstoffe (zumeist mit hemmender Wirkung) zusätzlich, wobei die Rolle für die Aufnahme der Einzelsubstanzen noch gar nicht vollständig geklärt ist.
Welche Eiweissquellen können wir nutzen?
Wir können auf den lebenswichtigen Makronährstoff «Eiweiss» nicht verzichten, denn daran hängt unser Leben. Folglich müssen wir die Quellen nutzen, die uns zur Verfügung stehen. Der menschliche Organismus hat sich in den letzten 2–3 Millionen Jahren Entwicklungsgeschichte auch so weit entwickelt, dass wir selbst mit extremen Eiweissüberschüssen umgehen können. Könnten wir das nicht, wären die UreinwohnerInnen Grönlands, Nordsibiriens und Nordkanadas längst ausgestorben. In den meisten Industrienationen ist die Herstellung der Grundnahrungsmittel und deren Weiterverarbeitung zu verzehrbaren Roh-, Zwischen- und Endprodukten allerdings so weit fortgeschritten und auch bedarfsdeckend, dass wir uns seit 100 Jahren die eingangs gestellte Grundfrage überhaupt erlauben können und aus ökologischen Gründen sogar müssen.
Wertigkeit pflanzlicher und tierischer Eiweisse
Aufbauend auf den Erkenntnissen des Physiologen Max Rubner (1854-1932), Instituts-Nachfolger von Robert Koch in Berlin, zum Thema «Eiweiss-Mindestbedarf» (1914 publizierte «Eiweissquote» von 100 g pro Tag für erwachsene Gesunde), entwickelte der Physiologe Karl Thomas (1883–1969) in Leipzig das Modell der biologischen Wertigkeit verschiedener Eiweisse.
Die Grundfrage dabei lautete: Wieviel eiweisshaltige Nahrung müssen wir aufnehmen, um daraus 1:1 körpereigenes Eiweiss bilden zu können?
Das Voll-Ei diente Thomas als Referenz mit dem Wert 100, da es einen 100%igen Umbau ermöglicht.
Nahrung mit einem Wert unter 100 bedeutet, dass wir entsprechend grössere Mengen davon zu uns nehmen müssen, um zu einer bedarfsgenügenden Zufuhr zu gelangen. Werte über 100, d. h. eine hohe Wertigkeit, deuten darauf hin, dass schon geringere Mengen ausreichen, um gut ernährt zu sein.
Und was bedeutet das alles für PatientInnen nach einer Magenbypass-Operation?
Jedes Bypassverfahren (Standard-Bypass, distaler Bypass, biliopankreatische Diversion) bewirkt Zeitmangel, da es zu einer schnelleren Nahrungspassage durch den Verdauungstrakt führt und damit die verfügbare Zeit zum Aufspalten und der Aufnahme der Nährstoffe in den Blutkreislauf verkürzt. Was nicht gespalten wird, das wird auch nicht aufgenommen und gelangt unverdaut in den Dickdarm, wo es von den Bakterien unter (manchmal enormer) Gasbildung abgebaut wird.
Um als Bypass-PatientIn eine bedarfsdeckende Ernährung ohne Mängel zu erzielen, muss man also zielgerichtet grössere Portionen bestimmter Nahrungsbestandteile zu sich nehmen, wie z. B. vom Eiweiss. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass die Eiweisse in der Kürze der Zeit effizient und schnell genug aufgeschlossen und aufgenommen werden können.
- Eine ausreichende, volumenmässig noch zu bewältigende, eiweissbetonte Ernährung:
- minimal 1.0 g Eiweiss pro kg Magermasse und Tag
- optimal 1.2 g Eiweiss pro kg Magermasse und Tag
- bei vorbestehendem Muskelmangel (Fachjargon: Sarkopenie) mehr als 1.3 g pro kg Magermasse und Tag
- Die Magermasse lässt sich übrigens mit Messungen der Körperzusammensetzung und/oder der Stickstoff-Ausscheidung im 24-Stunden-Sammelurin feststellen – so wie es eigentlich regelmässig im Rahmen der Nachsorge nach Magenbypass-Operation durchgeführt werden sollte.
- Die ausreichende Eiweissdeckung sollte auf jeden Fall mit mageren – also fettarmen – Eiweissquellen erfolgen, da sonst zu viele Nahrungsfette mitaufgenommen werden, weshalb Milch und viele Milchprodukte eher ungünstige Eiweisslieferanten sind.
- Eiweisse mit günstiger Zusammensetzung bezüglich Aminosäuren-Muster sowie mit einem guten Verhältnis zwischen Eiweiss und Fett findet man (leider) nur bei Eiweissquellen tierischer Herkunft. Als hochwertige Eiweiss-Supplemente sind Produkte auf Molkebasis (einem Produkt aus der Käseherstellung mit nahezu null Fett) ideal.
- Einen reduzierten Konsum kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel (d.h. stärkebasierter Nahrungsmittel wie z. B. Brot, Pasta, Kartoffeln, Reis, Mais, etc.), aber keinesfalls einen Verzicht, da für die optimale Eiweiss- bzw. Aminosäuren-Aufnahme Kohlenhydrate im Dünndarm verfügbar sein sollten.
- Einen erhöhten Konsum einfacher Kohlenhydrate aus Gemüsen* und vollständigen Früchten** (Vorsicht! Das gilt nicht für Säfte, Smoothies, etc.), auch wenn Risiken und Nutzen einzelner sekundärer Pflanzenstoffe nicht immer restlos bekannt sind.
In gewissen Phasen des Langzeitverlaufes nach einer Magenbypass-Operation müssen VegetarierInnen – man spricht hier auch von der sogenannten «ovo-lakto-vegetarischen» Ernährungsweise – meist auf Eiweiss-Supplemente zurückgreifen. VeganerInnen müssen vor einer bariatrischen Operation – und besonders vor einer Magenbypass-Operation – für sich die Grundsatzfrage klären, ob sie überhaupt bereit sind, die realen Mangelernährungs-Risiken, die damit einhergehen können (nicht müssen), einzugehen.
Wir hoffen, wir konnten mit unserem «Eiweiss-Post» viele offene Fragen ausräumen und freuen uns wie immer auf euer Feedback, Kommentare und Nachrichten. Weitere Informationen zu dem Thema finden Sie hier.
* Oxalatärmere pflanzliche Nahrungsmittel sind hier zu bevorzugen (Stichwort: Nierenstein)
** Faserstoffreiche (früher: ballaststoffreiche) Nahrungsmittel sind vorteilhaft, aber das ist ein anderes, neues Thema zum glykämischen Index und zum «Dumping».
Dr. med. Renward S. Hauser, Foto: Frank Adelhardt
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