Der «kleine» Unterschied – wieso werden häufiger Frauen als Männer bariatrisch operiert?

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Ein Blogartikel von Dr. med. Jeannette Widmer, Oberärztin Bariatrische Chirurgie am UniversitätsSpital Zürich

Derzeit ist die sogenannte «gender medicine» in vieler Munde, die den biologischen und genetischen Unterschied von Frauen und Männern mit einbezieht. An Aktualität gewann die Thematik erneut unter der Corona-Pandemie, wo sich zeigt, dass Männer im Vergleich zu gleichaltrigen Frauen häufiger an dem Virus versterben.

Die wachsende Erkenntnis, dass geschlechterbezogene Erziehung, Kultur, Rollenzuschreibungen, Tradition und Lebensstil einen starken Einfluss auf Gesundheit und Krankheit haben, weckt das Bedürfnis, das Geschlecht bei Prävention, Diagnose und Therapie zu berücksichtigen.

Medizingeschichtlich wurde lange Zeit nur an männlichen Leichen Forschung betrieben,  und somit galt die männliche Anatomie als Standard. Dagegen sind psychische Erkrankungen bei Männern deutlich weniger gut erforscht als bei Frauen. Entsprechend wenig Mitgefühl wird Männern bei emotionalen Problemen entgegengebracht.

Ähnlich steht es um das Übergewicht – wie Ihr wisst – eine chronische Krankheit, welche öfters mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert wird. Statistisch ist es jedoch so, dass Männer seit Beginn der 2000-er Jahre häufiger übergewichtig sind als Frauen. In der Schweiz sind es aktuell etwas mehr als 50 % der Männer, die einen BMI über 25 kg/m2 haben, davon gilt fast ein Viertel als adipös (BMI über 30 kg/m2). Bei den Frauen sind ungefähr 30 % übergewichtig, davon ein Drittel adipös. Ähnliche Verhältnisse beobachtet man in Deutschland und Österreich. Obwohl Männer von der Adipositas häufiger betroffen sind, zeigt sich jedoch seit Jahrzehnten ein umgekehrtes Geschlechterverhältnis bei den bariatrischen Operationen: dort sind es durchschnittlich 80 % Frauen (!), die diese Eingriffe vornehmen lassen.

Woher kommt dieses Ungleichgewicht?

Eine nationale Umfrage aus Chicago zeigte, dass bei der Beurteilung von Patienten durch bariatrische Chirurgen das Geschlecht kaum oder gar keinen Einfluss auf die schlussendliche Therapie-Entscheidung hatte. Daher muss man davon ausgehen, dass die ungleiche Geschlechterverteilung auf Ebene der Patienten selber sowie bei der hausärztlichen Zuweisung geschieht. Zum Beispiel ist es so, dass bei Männern und Frauen, die ähnlich gut über bariatrische Eingriffe informiert sind, interessanterweise doppelt so viele Frauen mit dem Gedanken spielen, eine solche Operation vornehmen zu lassen. Auch von hausärztlicher Seite wird Frauen ebenso doppelt so häufig eine bariatrische Operation im Vergleich zu Männern mit dem gleichen Übergewicht und Alter nahegelegt.

Ersteres hat sicher auch damit zu tun, dass in der westlichen Welt spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein schlanker Körper als erstrebenswert gilt und sich dieses Schönheitsideal durch die Globalisierung weltweit ausbreiten konnte. Frauen sind dabei vermehrt dem kulturellen und sozialen Druck ausgesetzt, diesem Idealbild zu entsprechen und beschäftigen sich daher meist früher mit Ihrem Körpergewicht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Frauen häufiger aktiv nach einem bariatrischen Eingriff fragen.
Es gibt zudem Studien, die zeigen, dass Frauen und Männer eine unterschiedliche Körperwahrnehmung haben. Beim gleichen BMI fühlen sich die Männer im Vergleich zu den Frauen weniger durch das Übergewicht gestört; sie sind weniger unzufrieden deswegen und beginnen seltener einen Versuch, das Gewicht zu senken. Analysen zur Lebensqualität bei Adipositas beinhalten Bereiche wie Körperfunktionalität, Leidensdruck in der Öffentlichkeit, Selbstwertgefühl, Liebesleben und Arbeit. Dabei zeigt sich ebenfalls, dass sich Frauen in allen Bereichen durch die Adipositas eingeschränkter fühlen als gleichgewichtige Männer.

Bei genauer Betrachtung fällt zudem auf, dass zum Zeitpunkt der Operation die Männer deutlich älter sind als die Frauen. Männer scheinen die bariatrische Operation erst als Therapiemöglichkeit in Betracht zu ziehen, wenn sie bereits krank oder deutlich eingeschränkt sind. Häufig lassen sich Männer erst nach einer akuten Krankheit, wie zum Beispiel einem Herzinfarkt, oder neu-diagnostiziertem Diabetes mellitus, operieren. Diese Ereignisse lösen in ihnen das Gefühl der Ohnmacht und Machtlosigkeit aus und sie sehen ein, dass sie Hilfe im Kampf gegen ihr Übergewicht brauchen. Die Initiative, eine operative Therapie in Betracht zu ziehen, geht dennoch selten von den männlichen Betroffenen aus, sondern von Familienangehörigen oder behandelnden Ärzten.
Frauen, die in jungen Jahren den gesellschaftlichen Druck zum Körperideal verspüren, entscheiden sich im Durchschnitt früher für eine bariatrische Operation. Zudem ist bei Frauen die Unfruchtbarkeit aufgrund der Adipositas vordergründiger als bei den Männern und kann ein zusätzlicher Katalysator in Richtung Operation sein.

In einer kleinen Studie aus dem Jahre 2015 wurden Männer postoperativ gefragt, weswegen sie sich erst so spät bariatrisch operieren liessen. Die häufigste Antwort war, dass sie bariatrische Operationen mit Eitelkeit assoziieren und dies sei kein Verhalten, das ihnen nahe sei. Dies wiederum zeigt, dass eine falsche Vorstellung der bariatrischen Chirurgie – dass diese das Körperbild statt der Gesundheit verändert – eine signifikante Barriere für eine angemessene Therapie bei Männern ist.

Schlussendlich noch eine Studie, die den Verlauf nach der Operation an gleich vielen Frauen wie Männern mit ähnlichem BMI, Alter und entsprechenden Begleiterkrankungen verglich. Nach 24 Monaten war der Gewichtsverlust bei beiden Gruppen etwa gleich. Dasselbe gilt für die Ergebnisse der Behandlung für die Begleiterkrankungen der Betroffenen.
Man kann sagen, dass die bariatrische Chirurgie eine effektive Therapie für Gewichtsreduktion und Verbesserung des Stoffwechsels, sowie des Bewegungsapparates bei Männern und Frauen ist. Hervorzuheben ist zudem, dass es bei beiden Geschlechtern eine signifikante Verbesserung der Fertilität, der Sexualfunktion und der Lebensqualität gibt.

Zusammenfassung

Obwohl Männer inzwischen häufiger unter Übergewicht leiden, lassen sich immer noch mehrheitlich Frauen bariatrisch operieren. Dieser sogenannte Geschlechterunterschied (gender gap) scheint hauptsächlich sozio-kulturellen Ursprunges zu sein. Frauen scheinen aufgrund des vorgegebenen Schlankheitsideals und möglicher Verbesserung der Fruchtbarkeit bezüglich Gewichtsreduktion sensibilisierter zu sein, zudem wird ihnen die Operation häufiger empfohlen. Männer hingegen lassen sich oft erst beim Auftreten von Begleiterkrankungen operieren und empfinden die bariatrische Chirurgie immer noch eher als «Schönheitsgehilfe».

Die bariatrische Chirurgie ist jedoch die effektivste Therapie der Adipositas und deren Folgeerkrankungen für Frauen UND Männer. Was denkt ihr, wie können wir die Männer besser erreichen?

Ihre Jeannette Widmer

1 Kommentar
  1. Michael Matousek
    Michael Matousek sagte:

    Meine eigene Erfahrung ist, daß größte Problem Hilfe anzunehmen, man ist nicht schwach sondern stark genug um es alleine zu schaffen. Ein Mann ist hart , hat alles im Griff und brauch keine Hilfe.
    Erst wenn man einsieht das es kein Versagen ist wenn man Hilfe annimmt,kommt man weiter.

    Antworten

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